Es ist nie zu spät! Wie Sissi zur Karosseriebauerin wurde

Ein Gespräch mit meiner Nichte Anne-Catrin zum Thema: Leidenschaft und Handwerk
Und meinem Schwager Alexander zum Thema: Generationswechsel

Wie weit reicht Ihre Fantasie? Können Sie sich vorstellen, dass aus einem kleinen Mädchen, dessen Berufswunsch „Prinzessin Sissi!“ lautet, sie in einem späteren Leben einmal eine Karosseriewerkstatt übernimmt? Vielleicht hätte ich hinter der Geschichte auch eher das Drehbuch einer seltsamen Hollywood-Komödie vermutet, stünde die Karosserie- und Fahrzeugbaumechanikerin nicht in Person meiner Nichte Anne-Catrin vor mir. Eine Frau, von der man/frau viel lernen kann; über den Umgang mit Krisen, über radikale Ehrlichkeit zu sich selbst und über den Mut, sich neu zu erfinden – denn Anne-Catrins Weg zu ihrem Traumberuf war alles andere als geradlinig.

„Prinzessin Sissi! Das wollte ich als Kind werden. Angefangen habe ich dann aber eine Frisörlehre. 😉 Nach zwei Jahren habe ich die Ausbildung abgebrochen und eine Ausbildung im Einzelhandel begonnen. Die Entscheidung habe ich im Grunde aus Bequemlichkeit heraus getroffen. Ich war 18, brauchte Geld und nahm einen Minijob an. Schnell bekam ich dort einen Ausbildungsplatz angeboten und habe angenommen, ohne mir viele Gedanken darüber zu machen,“ erzählt Anne-Catrin. „Im Grunde hätte mir schnell nach der Ausbildung klar sein müssen, dass ich in meinem Beruf als Einzelhandelskauffrau nicht zufrieden werden würde. Das kann mit dem gleichen Beruf in einer anderen Branche oder einem anderen Unternehmen völlig anders sein, aber meine Arbeit erfüllte mich nicht, geistig war sie nicht gerade herausfordernd. Aber um mir das einzugestehen, war ich zu bequem. Das Betriebsklima war toll, die Chefs und Kollegen super. Ich habe mich nicht überarbeitet und trotzdem für mein damaliges Empfinden viel Geld verdient. Ich hatte in dieser Zeit wenig Anspruch an mich selbst. Mit mehr Selbstdisziplin und Eigenmotivation hätte ich mich sicherlich früher für einen anderen Beruf entschieden.“ (Sie verstehen, was ich mit „radikaler Ehrlichkeit zu sich selbst“ meine.)

Die Erkenntnis, dass wohl eine Veränderung angebracht sei, tippte nicht zart an Anne-Catrins Schulter, sondern überrannte sie in Form einer schweren Autoimmunerkrankung. Wie so oft kamen weitere Krisenmomente hinzu, die Anne-Catrin regelrecht dazu zwangen, einmal innezuhalten: „Ich erlebte beruflich wie privat massive Umbrüche. Ich hatte die Filiale auf eigenen Wunsch hin gewechselt, war umgezogen und hatte plötzlich allerlei zwischenmenschliche und fachliche Probleme auf der Arbeit. Das hatte ich in den 6 Jahren in der alten Filiale nie erlebt. Ich wurde krank. Nesselsucht, eine Autoimmunerkrankung, die die Arbeit mit Lebensmitteln schwierig machte. Meine Beziehung ging in die Brüche, wieder Umzug. Nach 2 Jahren in der neuen Filiale, von denen ich 1,5 Jahre wegen der Krankheit kaum da war, trennten sich mein Arbeitgeber und ich einvernehmlich voneinander.“

Was nun? Anne-Catrin tat das, worum ihr Körper inständig bat: Sie ging in Reha und nahm sich danach drei Monate Zeit, um durch Indien und Indonesien zu reisen. Alleine, nur für sich. Anne-Catrin veränderte sich. Nicht äußerlich, nein, ihre Haltung wurde eine andere. Ich bin halt, wie ich bin, und kann nichts daran ändern? Von wegen! „Ich kam zurück und war bis auf seltene kleine Schübe gesund. Mir wurde klar, dass für mich nun, mit 28, plötzlich wieder alle Türen offenstanden! Ich konnte in meinen alten Beruf zurück oder, durch das Amt unterstützt, mit einer neuen Ausbildung von vorne anfangen. Die Möglichkeit, zusätzlich zu einer normalen Ausbildungsvergütung Zuschuss für die Sicherung des Lebensunterhalts zu bekommen, machte mich unabhängig in meiner Entscheidung.“ Und diesmal traf Anna-Catrin ihre Entscheidungen nicht aus Bequemlichkeit und ohne eigene Ambitionen, sondern ganz bewusst. Sie besuchte ein Berufsinformationszentrum in Regensburg, verschaffte sich dort systematisch einen Überblick über ihren Bildungsstand und ihre Fähigkeiten, nutzte die Gelegenheit, tageweise in verschiedene Branchen hineinzublicken und führte zahlreiche Gespräche mit Freunden, Familie und Berater*innen vom Amt. Parallel half sie im Karosseriebaubetrieb ihres Vaters aus und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass ihr von allen Berufen, die sie sich ansah, der Karosseriebau am meisten lag. Geschick und Köpfchen brachte sie mit, ein Ausbildungsplatz war im Unternehmen frei, und sie hätte die Aussicht, den Betrieb vielleicht sogar irgendwann zu übernehmen. Handwerk? Als Karosserie- und Fahrzeugbaumechanikerin? Anne-Catrin schlug ein!

Zwei Jahre später:

Anne-Catrin hat ihr Leben in die Hand genommen und ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen.
Entscheidungen? Bitte bewusst und auf eigene Verantwortung!
Veränderung? Ja bitte, und zwar auf eigenen Wunsch! In der Branche ist Anne-Catrin inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Aber dazu ein anderes Mal mehr…

Kannst auch Du eine Geschichte erzählen, wie Du Deine Entscheidungskraft unter Beweis stellen konntest?
Hast Du schon mal Erfahrungen sammeln können, in der Dir eine Lebenskrise eine neue Chancen geboten hat?

 

Hinweis
„Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit verwende ich in meinen Blogs die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen oder neutralen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.“